Prolog


Du hast eine kleine Flamme entfacht, von der ich nicht weiß, ob ich sie nähren soll.

 

Ich war noch nie gut darin, kleine Flammen zu bewahren, aus Angst, sie könnten erlöschen und das Licht nie mehr zurückkommen.

 

Ich brauche dieses Feuer, denn es ist kalt draußen, aber man sagt mir, wenn ich die Flamme zu schnell anfache, wird sie mich verbrennen.

 

Sie sagen mir, dass du Angst vor dem Feuer haben wirst und dich nicht zu mir ans Feuer setzen wirst.

 

Lass es bei einer kleinen Flamme, sagen sie. 

 

Aber ich will das Feuer nähren, ihm Raum geben.

 

Ich will Wärme bieten, nicht eine vage Glut.

 

Viele, die mich begleitet hatten auf meinem Weg, haben die Flamme gelöscht, die meisten von ihnen auf grausame Weise, aber ich mache ihnen keinen Vorwurf, sie mussten, um sich nicht zu verbrennen. Oder ich habe angefangen, die Flamme zu löschen, weil ich Angst hatte, mich zu verbrennen. 

 

Ich hatte gelernt. Ich hatte es mir in der Dunkelheit gemütlich gemacht, und in der Kälte. 

Aber jetzt wurde es zu kalt. Die Fackeln der kurzen, unverbindlichen Sinnesabenteuer spenden nicht mehr genug Wärme, der Atem kristallisiert vor Kälte. Und die stille Kälte ist nicht mehr mein Freund.

 

Ich will Wärme, ich will Hitze, ein letztes Mal, auch wenn ich verbrenne, auch wenn ich ausbrenne.

 

 


Lass uns einfach leicht sein.

Jetzt sitze ich Dir gegenüber in dieser Kneipe und verliere mich in Deinen Augen. Es ist viel weniger die Augenfarbe - "hazel" heißt diese faszinierende Farbe im Niemandsland zwischen braun, beige und grün auf Englisch - als vielmehr die Tatsache, dass Pupille und Iris das richtige Verhältnis haben und das Weiß in Deinen Augen richtig weiß ist. Seit ich nicht mehr trinke, seit 14 Jahren, beobachte ich die Augen meiner Mitmenschen noch genauer. Menschen, die Rauschmittel zu sich nehmen, haben kein Weiß in den Augen, sondern ein helles beige.


Deine Augen sind wach, verdammt wach, keine Ausschweifung, kein Exzess ist in ihnen zu sehen. 


Ich halte Deinen Augenkontakt, ich kann und will nicht wegblicken.


Du wirkst makellos, dein Make-up, falls Du welches aufgetragen hast, ist dezent, Dein Kleidungsstil ist stilvoll und doch nicht übertrieben, Deine gesamte Erscheinung hat Klasse und doch bist Du nicht affektiert.


Aber das ist es nicht. Du könntest im Blaumann in Arbeitsschuhen hier sitzen oder mit dicker Strickjacke mit Mottenlöchern. Es ist vielmehr Deine Gestik und Mimik und das, was Du sagst und wie Du es sagst, was dich mit deinen gut 30 Jahren so reif und erwachsen wirken lässt. 


Du weißt, was Du willst in deinem Leben, hast spannende Projekte, berufliche Ideen und auch sonst hast Du eine gute Einstellung zum Leben, aber auch Dein Umgang mit Schicksalsschlägen, von denen schon die Rede war, wirkt souverän; aber nicht frostig, nicht kalt.


 


Zudem bist Du auch noch alles andere als reserviert oder distanziert. Ich habe dich im Umgang mit dem Kellner und anderen Leuten erlebt, Du bist charmant, herzlich und witzig.


Und Du sendest Signale, die mich glauben lassen, dass dies hier für Dich auch ein Date ist, nicht nur ein lockeres kumpelhaftes Treffen.


Und klar habe ich irgendwo genug Selbstbewusstsein, zu wissen, dass ich nicht der langweiligste Mensch bin.


Aber genau das ist es, was mich plötzlich innerlich verkrampfen lässt, weil es in mir wieder dieses große schwarze Loch entstehen lässt.


Meine Gedanken schweifen ab, denn mir kommt wieder dieses Gefühl hoch; dieses Gefühl, mindestens 14 Jahre meines Lebens verschlafen zu haben, verkackt, versoffen. Denn ca. 14 Jahre meines Lebens bin ich selten unter acht bis zehn Halben Bier ins Bett gegangen. Ich hatte mich in mich selbst verkrochen, die Herausforderungen des Lebens negiert, mich mit Alkohol betäubt, resigniert, ein Studium in den Sand gesetzt.


Du bist ziemlich genau die Anzahl an Jahren jünger als ich, die ich getrunken habe, und dennoch ist da dieses Gefühl, dass ich nie die Jahre kompensieren kann, in denen Menschen die entscheidenden Weichen für ihr Leben stellen und reifen, denn die wichtigen Entscheidungen passieren um und ab der Volljährigkeit, der Zeit des Lebens, die ich verschissen habe. 


Mit der Nüchternheit kam die niederschmetternde Erkenntnis, dass der Alkohol diese Leere nicht gelöscht hatte, diese Leere wurde nur verdeckt und ist währenddessen noch gewachsen. 


Wie ich in diesen Strudel des Trinkens kam, weiß ich immer noch zu gut.


Es war ein Unwohlsein mit den Verhältnissen dieser Welt, ein Unwohlsein damit, dass die Gleichgültigen und Intriganten glücklich waren oder zumindest schienen, ein Unwohlsein mit elterlichen Erwartungen und daran zu scheitern; Erwartungen, die ich nicht wirklich erfüllen konnte und so nicht wollte; dieses Unwohlsein mit einer Welt, die sich auch danach nicht so verändert hatte, wie ich es immer ersehnt hatte für den Tag, an dem ich wieder

mit den wachen Menschen mitspielen dürfte.


Am Ehesten könnte man es mit dem folgenden Gleichnis erklären: es ist wie eine Party, zu der man eingeladen ist, auf der fast alle sind, die man sehr mag. Nur leider sind alle Straßen dicht dorthin oder Züge fallen aus. 


Man kommt erst kurz vor Mitternacht, hat einen riesigen Kohldampf und will feiern, nur sind alle anderen schon sehr müde und es gibt nichts mehr zu essen. Jemand sagt  “Achso, wir dachten,
Du kommst nicht mehr, sonst hätten wir Dir was zum Essen aufbewahrt.”


Man kommt sich verloren vor, weil man allein ist mit der Euphorie und weil man merkt, dass die guten Geschichten an dem Abend schon alle geschrieben wurden.  



Deshalb werden viele Abstinente irgendwann wieder rückfällig. Es sind in wenigen Fällen finanzielle Ängste, im Gegenteil, es passiert auch oft denen ohne Geldsorgen; denen, die sich die Flucht in
den Rausch leisten können. Ich glaube, der Hauptgrund dafür, dass viele von uns rückfällig werden, ist dieses diffuse Gefühl, Zeit verloren zu haben im Gegensatz zu Mitmenschen ohne Abhängigkeit; Zeit, die uns niemand zurückbringen kann. 


Viele flüchten sich in andere Süchte. Ein Suchtmensch bleibt ein Suchtmensch, man verlagert nur, man rennt, man flüchtet weiter. Shopping, Arbeit, Religion, akribische Ordnung, krass durchstrukturierte Tagesabläufe, Extremsport oder eben andere Rauschmittel.


Bei mir war und ist es Joggen; und Rauchen.


Meine Therapeutin bei der Alkoholentwöhnung hat mir damals Absolution erteilt; die Absolution, sagen und denken zu dürfen, dass ich nicht süchtig geworden bin, weil ich schwach bin, dekadent, übersättigt oder gelangweilt. Ich bin deshalb süchtig geworden, weil es da etwas gab in meiner Seele, etwas Bedrückendes, etwas Schwarzes, eine Leere.


Über all das denke ich nach, als Du mich aus meinen Gedanken holst: “Christian, Christian?”


Ich schaue Dich konsterniert an und Du merkst es. Natürlich merkst Du es. Und ich bekomme Angst, Angst, Dir nicht zu genügen in Deinem nahezu perfekt wirkenden Leben.


Ich hatte mich dem ausgesetzt, mit Dir auf ein Date zu gehen, wohlwissend, dass ich eigentlich tief in mir drinnen viel zu viele Komplexe habe, als dass dies etwas auf Augenhöhe werden könnte, etwas Gleichberechtigtes, etwas ohne Gift. 


Ich könnte jemanden finden, der dieselbe Geschichte hat oder eine ähnliche, eine Suchtgeschichte oder eine Geschichte mit viel Schmerz, in der Hoffnung, dass man sich versteht. Auch solche Beziehungen gab es schon in meinem Leben. Man kann besser drüber reden, zumindest am Anfang.


Aber auch das war zum Scheitern verurteilt, unsere Komplexe und unsere Leere im Herzen potenzierten sich. Unser beider Verletzlichkeit machte uns ab einem gewissen Punkt zu angsterfüllt füreinander.


Ich floh immer wieder, Eskapismus galore. Ich suchte mir Flirts, Leidenschaft und Wertschätzung, allerdings oberflächlich, angelegt auf eine kurze Dauer.


Wenn es zu intensiv wurde, war ich weg, immer. 


“Es gibt kein richtiges Leben im falschen”, schrieb Adorno. 


Wenn ich den Satz zuende denke, heißt das viel, aber nichts Gutes, zumindest nicht für die, die in der Zeit ihrer Selbstbetäubung noch Verluste zu erleiden hatten, die gute Wohnung, den Job, Freunde, die Beziehung, geliebte Menschen.


Für diese unter uns könnte diese Leere einen schlimmeren Rückfall bedeuten; oder den völligen Kollaps.


 


Auch weil wir uns nicht zuhören in der Gesellschaft. Wir sind alle so frustriert, gehetzt und wittern überall Angriffe. Da ist kein guter Nährboden für Gestrauchelte, die aufstehen wollen, wenn
sie den Ellbogenchecks stabilerer Mitmenschen ausgesetzt sind. 


Viele Abstinente neigen dann zur Überkompensation, wollen besser sein in ALLEM, besser als ALLE anderen. Auch diese Überangepasstheit, die nüchterne Entschleunigung, die Beschäftigung ist Verdrängung, überdeckt oft nur die Leere, die irgendwann aufplatzt und einen dann umso magischer anzieht, einlädt zum Fallen.


 

Wir trauen uns nicht, von diesem schwarzen Loch in uns zu erzählen. 


Wir hoffen, dass die Anderen versuchen, es zu verstehen.


Das, was an uns schrullig wirkt, eigentümlich, ist Produkt einer Irritation, zurück zu sein in einer Welt, die wir lange anders wahrgenommen hatten, oft gewürzt mit einer Prise Verbitterung.


Denn man erwartet von uns, zu sein wie die, die bewusst und nüchtern Schritt für Schritt gegangen sind. Wir sollen gefälligst aufschließen, aber eben auch aufschließen zu den Mechanismen, die wir
damals schon nicht mitgehen und mittragen wollten.


Wir sollen uns gefälligst in einer Gesellschaft zurechtfinden, in der immer noch oftmals diejenigen Macht akkumulieren, die am besten intrigieren und manipulieren können, nicht die, die am
fähigsten sind. 



Ich verweigere mich dem, der Entwicklung, dem Berufsabschluss, dem, was die Mehrheit erwachsen nennt, wenn es nur mit Machtspielen zu tun hat. 


Ich verweigere mich dem, weil ich nie gelernt habe, wie das geht und das auch gar nicht will.


Deswegen hatte ich auch einst meinen Geist betäubt, weil ich nicht Teil dieses Spiels sein will. Vielleicht bist Du ja genauso, mein Gegenüber. Immerhin konntest Du ja all diese Jahre scheinbar problemlos mit dem Schwarm mitschwimmen. 


All das spreche ich natürlich nicht aus, denke es mir nur.


Jetzt bekomme ich Panik, ich will weg.


Du spürst meinen Impuls, aufstehen zu wollen und legst deine Hand auf meinen Handrücken.


"Ich weiß", sagst Du sanft, "und du ergänzt: "ich sehe dich, ich sehe deine Augen."


Ich muss irgendwie meine Irritation durch einen Gesichtsausdruck zum Ausdruck bringen, denn Du ergänzt: "Ich weiß um Deine Abstinenz, Du hattest es kurz erwähnt und ich muss Dir was gestehen. Ich habe auch eine Drogenvergangenheit, und nicht nur Alkohol.


Ich kenne dieses große schwarze Loch. Auch deshalb wollte ich dich treffen.


Lass uns zusammen einfach leicht sein."


In dem Moment fällt alles von mir ab. Seit Jahren spüre ich das erste Mal dieses Gefühl, mich fallen lassen zu können.


Ich unterdrücke meine Tränen.


Ich will es dir mitteilen.


Mehr als "ich...", bringe ich nicht heraus.


"Ich weiß”, fällst Du mir ins Wort und wischst eine Träne weg, die deine Wange hinunter kullert.


“Lass uns zu mir oder zu dir gehen, wir sind Jahre zu spät dran und haben viel nachzuholen.” sagst Du. 


Du lächelst, ich tue es dir gleich.


Wir verlassen die Kneipe, halten sogar Händchen.


Vielleicht bist Du es ja endlich, diese Person, die mit mir zu spät auf der Party erscheint und auch noch nicht zu müde zum Feiern ist. Ein bisschen Hunger hätte ich, denk ich mir, ein bisschen
sehr viel Hunger. 


“Was hältst Du davon, wenn wir uns irgendwo Döner, Falafel oder Pizza holen”, fragst Du aus dem Nichts. 


Ich lächle und nicke. 


Ich spreche es nicht aus, aber denke mir, dass sie keinen blassen Schimmer hat, wie komplett gut, richtig und wichtig diese Frage gerade war.